Freitag, 28. Oktober 2011

Anarchistische Reisen - Zugfahrten des modernen Punks


Troy Ramone and Bunny Melbourne 07
(c) THOR
Frei von jeder Staatsgewalt sein. Das ist ein Traum und eine Philosophie vieler. Ausdruck der Rebellion mit bunten Haaren, Nietenjacken und krachender Musik.
Aber es scheint Bewegung in die Gruppierung der Punks zu kommen, denn immer wieder trifft man die seltene Art in den Zügen der Deutschen Bahn, statt nur vor deren Bahnhöfen. Rebellion und Anarchie ist nach einem Kampf von ca. 40 Jahren der Punk-Szene nicht mehr wie früher anwendbar. Die Gesellschaft um diese Bewegung herum hat sich verändert und das nonkonformistische Verhalten wird überdacht; schließlich sind viele Begründer des Punks mittlerweile in höheren Altersgruppen anzutreffen und Konventionen wurden alltagstauglich.
Ein Punk auf der Straße schockiert heute niemanden mehr…


Bewegung zur Verbreitung der Kunde

Sich aus der Gesellschaft auszukoppeln hieß oftmals früher auch das Fehlen eines Autos. Geld für Kraftstoff oder das Abschließen von Versicherungen passte nicht in das Bild des Rebellen. Viel lieber wurde auf das Trampen zurückgegriffen. An die Straße gestellt und den Daumen gehoben, bis jemand Mitleid hatte diese sich selbst ausstoßenden mitzunehmen.
Dadurch wurde aber auch klar, dass der Punker an sich keinen Schwerpunkt auf Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit legte. Das Empfinden von Zeit ist hauptsächlich subjektiv. Der Punker kommt an, wenn er da ist. Das nannte er Freiheit. Er wusste am Morgen nicht, ob er es bis abends an sein Ziel schaffen würde oder wo dieses sein könnte.

Dieses Gefühl der zeitlichen Unabhängigkeit bietet neuerdings die Deutsche Bahn. Insbesondere im Winter ist es fraglich welcher Zug nun fährt. Niemand weiß, ob er am Tag X wirklich sein Ziel erreicht.
Genau dies nutzt der Punker für sein Lebensgefühl. Zwar muss er nun nicht mehr den Daumen hochhalten, aber es ist auch fraglich wann und ob ein Zug hält. Dass man dann die Konvention des entgeltlichen Transports aufnimmt ist zu verschmerzen. Der Staatskonzern bietet durch seine Gruppentickets freundliche Punkerpreise. Zudem ist durch diese der soziale Zusammenhang als Gruppe gewährleistet.

Gedämpfte Musik als Zeichen der Irritation

Sollte der Bahnreisende, der nun auf eine Gruppe der bunt frisierten Punker trifft nun denken, dass ihn jetzt bellender Punk-Rock entgegenschlägt, gepaart mit Gebrüll und Besäufnisse, wird er zumeist enttäuscht. Durch den Einsatz von Musik in gedämpfter Zimmerlautstärke irritiert der Rebell seine Mitmenschen. Die jahrzehntelange Konditionierung auf den Stereotyp eines Punkers brachte Erwartungen hervor, die als Standard für gesellschaftliches Verhalten herangeführt werden kann. Dies aufzubrechen ist Ziel der Aufsässigen gegenüber dem System. Man erfüllt keine Erwartungen der Angepassten, sondern schockiert durch Widerlegung der eigenen Vorurteile.

Umwelttrend wird verfolgt?

Weiterhin beobachtet man die traditionelle Bierdose in den Händen der Gruppe. Nach der Einführung des Pfands auf selbiger ist es schwerer geworden für diese Verpackung am Markt. Die treue Haltung der anarchistischen Rebellion ist aber weniger die Haltung zum Umweltschutz. Fein säuberlich werden zwar geleerte Dosen wieder eingesammelt, aber dies geschieht aus einer betriebswirtschaftlichen Not heraus.
Die einfachen Mechanismen der Volkswirtschaft hat der Punk verstanden und weiß ob der Verschwendung von Geld. Mit 25 Cent pro Dose würde ansonsten Geld weggeworfen. Auch wenn die Währung nur Ausdruck des bestehenden Kapitalismus zur Versklavung der arbeitenden Bevölkerung ist, so hat sie auch den Nachteil für die rebellierende Gruppe, dass Bier in einer solchen Währung gelistet ist.
So begreift der Punk, dass das Pfand nur ein durchlaufender Posten ist und entscheidend für die Reinvestitonsquote neuer Liter des Gebräus. Einmal investiert, kann das Pfand genutzt werden um neue Bierdosen aus der Hand des bestehenden Kapitalismus zu befreien.

Hochdeutsch vs. Ey!

Ein ungewohnter Kampf ist zudem in der Gruppe zu erkennen. Immer mehr versucht man sich von der gemeinen Bevölkerung abzugrenzen indem man des Hochdeutschen mächtig ist. Der Betrachter, der nur das Äußere im Blick hat, wird damit konfrontiert sodass er sich seiner Vorurteile ein weiteres Mal bewusst wird.
Als Gegenpol stellt sich aber die universelle Benutzung des Wortes „Ey!“ heraus. Die Kombination aus beiden Arten der Sprache ist vorhanden, wenn auch selten. Vielmehr vertreten einzelne Gruppenmitglieder unterschiedliche Ansätze in ihrer Provokation.
Die Nutzung des Hochdeutschen zielt auf das Empfinden des Empfängers ab, sich geistig überlegen zu fühlen. Die Konfrontation auf der meist gleichen Ebene führt zur Verunsicherung im weiteren Umgang mit den Gruppenmitgliedern.
Bei den „Ey!“-Nutzung wird durch die ständige Wiederholung versucht die Mannigfaltigkeit eines Wortes zu nutzen. Der Kontext der Nutzung wird somit wichtig. Dies drückt das Bedürfnis des Sprechers aus, dass sich die Gesellschaft mehr den Individuen zuwenden sollte.

Sexuelle Befreiung und Übergriffe

Den Punker an sich sieht der geneigte Bürger eher als asexuelles Wesen an. Nur wenige können sich aktiv vorstellen, dass ein Mensch mit diesem Aussehen und Auffassungen über ein aktives Liebesleben verfügt. Hinzu kommt die sexuelle Befreiung der Bewegung. Immer wieder sind lesbische Szenen in Zügen der Deutschen Bahn zwischen weiblichen Punkern zu beobachten.
Hier kollidiert die heile Welt der Gesellschaft in mehrfacher Hinsicht mit der Szenerie der neuen Punk-Szene.
Auf der einen Seite ist die konservative Seele weiterhin so geprägt, dass, Aufklärungskampagnen zum Trotz, gleichgeschlechtliche Liebe nicht akzeptiert wird. Steht diese Gruppe Menschen nun solchen Szenen gegenüber wird ihm aber nicht sein fehlerhaftes Verhalten als kleines gehorsames Rädchen in der Gesellschaft bewusst. Es führt mehr zu der Bestätigung der Ansichten über die gesellschaftlich Ausgestoßenen.
Ein weiterer Kollidierungspunkt bildet die traditionelle Bebilderung der Pornoindustrie. Diese greift immer wieder auf lesbische Szenen als Männerphantasie zurück. Dabei ist aber entscheidend, dass die zur Schau gestellten Körper makellos erscheinen, über große sekundäre Geschlechtsorgane verfügen und dennoch nicht das Gefühl erweckt wird, dass es auch ohne Männer ein Leben für diese Frauen gäbe. Ganz anders stellt sich dort das gleichgeschlechtliche Zwischenspiel weiblicher Punks dar. Das Aussehen will weder Main-Stream-Mode noch dem allgemeinen ästhetischen Empfinden gefallen. Sexuelle Anregungen für männliche Betrachter sind demnach nur für Rebellen vorbehalten, sodass eine weitere Provokation im öffentlichen Raum vonstattengehen kann.

Ein Kant auf Reisen

Während die Punk-Szene den Ruf des ungebildeten hatte, untermauern heutige Mitglieder ihre Ansichten durch fundierte Kenntnisse in Philosophie und Psychologie. Dabei spielt nicht der Abschluss eines Studiums die wesentliche Rolle, sondern die Erweiterung des Wissens aller.
Fachdiskussionen über hegemonisches Verhalten der Angepassten sind keine Seltenheit mehr. Der aufgeklärte Punker weiß, dass die Bewegung durch dieses Wissen fortbestehen wird. Auf der anderen Seite hat der Betrachter solcher Gruppen das Gefühl der Unzulänglichkeit. Nur die akademische Schicht kann den Gedankengängen folgen und wird nicht in seinen festgefahrenen Vorurteilen bestätigt. Die restlichen Mitfahrenden sind nur verwirrt ob der vielen Fremdwörter, die gebraucht werden von diesen Ausgestoßenen.

Der heutige Punk ist anders als der der 70er und 80er. Man sieht an ihm aber die Entwicklung an da er erkannt hat, dass die Gesellschaft sich verändert hat. Zur Rebellion gegen diese Gesellschaft ist es wichtig sich dieser Entwicklung anzupassen. Der reisende Punk verdeutlicht dies auf anschauliche Weise.

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